10 Tage die die Welt erschütterten

John Reed

Ein Rückblick auf morgen!
Ich hatte es gar nicht bestellt, aber irgendein Genosse ließ mir das Buch zukommen. Nach langem Nichtstun war ich froh, wieder was zum Lesen zu haben, und nahm es wegen seines schönen Einbandes gleich als erstes vom Stapel. Obwohl man ja Bücher nicht nach ihrem Einband beurteilen soll, aber ein Gewehr in Arbeiterhand und einen wehende rote Fahne, das reizte mich dann doch. Das Vorwort informierte darüber, was mich auf den nächsten 500 Seiten erwartete. Da hat sich der Autor aber eine große Aufgabe gesteckt, dachte ich so. Ich konnte ja noch nicht wissen, dass John Reed mit diesem Buch wohl die Referenzlösung geschaffen hat. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die entscheidenden Tage der großen sozialistischen Oktoberrevolution. Damit ein Buch von vielen? Mitnichten! Denn hier werden dem Leser nicht 1000mal durchgekaute Rückblicke irgendwelcher in Büros hockender "Experten" serviert. Sondern die ungeahnt mitreißenden Berichte eines Mannes, der selber von Anfang an am Ort und Puls dieser Zeit mit dabei war. John Reed, der selber für die Sache brannte, mit Taten seinen Namen untrennbar mit den Geschehnissen verband.
Wenn das Buch ein Roman sein soll, dann muss es spannend und mitreißend geschrieben sein, aber wenn es daneben auch noch ein gutes Geschichtsbuch sein will, dann kommt es um Fakten wie Zahlen und Namen nicht vorbei. Nicht einfach, vielleicht für andere... Reed verschmilzt beides zu einem Stoff, der jedermann sofort in die Abhängigkeit reißt. Zugegeben sofort vielleicht nicht, denn die einführenden Bemerkungen und Erklärungen sind schon recht kompliziert. Aber davor warnt der Autor selbst gleich im Vorwort. Ich machte mir sogar Notizen, was jedem angeraten sei. Zu groß ist die Fülle an Namen, Namen von den vielen politischen Organisationen, Diplomaten und Revolutionären, Renegaten und Reaktionären, die die Entwicklung Russlands im Jahre 17 entscheidend oder nicht beeinflussten. Doch schon im ersten Kapitel ist man dankbar für das Handwerkszeug. Jetzt ist man gerüstet sich mitreißen zu lassen in den Strudel der Ereignisse. Reed kündigt an zu versuchen, vollkommen neutral Bericht zu erstatten, aber schafft es nicht wirklich. Er kann an vielen Stellen seine Leidenschaft für dieses Erdbeben der Menschheitsgeschichte nicht verbergen. Man lernt sie alle kennen, die Bolschewiki, Sozialdemokraten, die Duma, große Lenker wie Lenin, Trotzki und Martow, Namen auch wie Gorki. Ja und man lernt sie hassen und verstehen, die Bürger und Opportunisten, Regierungsgetreuen, Feiglinge, Saboteure und bis zum Schluss Unentschlossenen. Sitzt dabei in Sitzungen der revolutionären Soldaten- und Arbeiterräte, Zentralkomitees der Sowjets und Bolschewiki. Aber vor allem ist es ein Buch, geschrieben den Glühenden - den Matrosen, Soldaten und Arbeitern, die sich endlich nahmen was ihnen gehört! Ja, ich glaube, man kann mit diesem Buch das russische Volk lieben lernen, Respekt verschaffen wird es einem auf jeden Fall. Vor diesem Volk, das sich unsere Bewunderung für immer gesichert hat. Diesem Volk, das in heutigen Tagen nun wieder aus dem Blechnapf frisst.
Im Vergleich zu Reeds Heimat Amerika, das 1917 seine bürgerliche Demokratie längst erobert hatte, begannen die Menschen in Russland erst spät ihre Monarchie abzuschütteln. Doch in welcher kurzer Zeit holten die Massen dieses unüberschaubaren Riesenlandes auf und überrundeten letztlich die Welt, Millionen geboren in eine Umgebung, verschleiert durch Religion und Analphabetismus begannen zu fragen - zu wissen und zu handeln. John Reed schreibt von dem unbändigen Wissensdurst, von der Gier, die jedes Buch, jedes Flugblatt und Dekret verschlang. Und es reifte und brodelte, Tag für Tag mehr Diskussionen, am heimischen Herd, auf Straßen und Plätzen hinter Palast- und Gefängnismauern, überall drehten sich alles um die politische Situation im Lande. Tja, und da sieh sich einer zur heutigen Zeit, in heutigen deutschen Landen unsere Pappnasen an. Die selbst nach zwei Weltkriegen, in denen sie treudoof marschierten nicht gerafft haben, wo ihr Feind steht. Die nun schon wieder an ihrer dritten, dem deutschem Imperialismus hinterher trottenden Volksfront basteln.
Nein, das große Land der Riesenströme, der gewaltigen Gebirge und Seen schickte nicht zwei grauenhafte Kriege in die Welt. Dort gab es anderes zu tun, als Gaskammern zu bauen und Millionen ins Massengrab zu jagen. Keiner zeigte ihnen, wie es zu machen ist mit der Revolution, damals im 17er Jahr. Es bedurfte kluger Köpfe und des eisernen Willens des Proletariats. Und liest man das Buch, so ist es einem an vielen Stellen unbegreiflich, wie Lenin und seine Partei die Massen der Arbeiter und Bauern durch das an manchen Stellen undurchdringlich scheinende Netz zum Sieg führte, einen Kampf mit 1000 Fronten. Reed erzählt von den unzähligen Intrigen, Machtspielen und Gegenschlägen, den ach so viele Gruppen und Grüppchen, der lähmenden Angst vor Veränderung, die so viele Weggablungen bereit hält. Soldaten und vermeintliche Revolutionäre, die - heute noch Freund - zu Komplizen des Klassenfeindes, zu Verrätern wurden. Von den "Gemäßigten" und den "Radikalen", unzähligen Meinungen und Fragen, die doch noch keiner zu beantworten vermochte. Und dies alles in der tödlichen Zange der alten Machthaber, der Zarentreuen, der Bourgeoisie von innen und einem imperialistischen Weltkrieg von außen, der an den Grenzen tobte. Und als wenn es der Autor voraus gesehen hätte, belehrt er uns über die immer vorhandene Gefahr alles Erreichte wieder zu verlieren. Lässt man sich nur einen Augenblick zu lang auf Heuchler und Opportunisten ein, auf die, die reden aber anderes denken, auf all die Revisionisten und Reformer, "Neudenker" und Drittwegsucher. Es ist der Absturz, der bei jedem Aufstieg lauert und der meist auf Taubenfüßen* daher kommt.
Dieses alte Buch ist damit nicht nur ein verdammt guter Roman, ein verdammt gutes Geschichtsbuch, sondern auch ein verdammt wichtiges Lehrbuch. Ein Lehrbuch aus dem man lernen, lernen und nochmals lernen sollte.
Ringo

Name: 10 Tage die die Welt erschütterten (Ten Days that Shook the World)
Autor: John Reed
Verlag: Dietz Berlin 1958 (2. Auflage)#

* "Die Entartung kommt, wie man zu sagen pflegt, auf Taubenfüßen."
(Karl Schirdewan auf einer Tagung des ZK der SED - Zitat entnommen Gossweilers: Die Taubenfußchronik oder die Chrutschtschowiade 1953 bis 1964)