DIE PERESTROIKA

Hans Modrow

Die wenigen Jahre des Umbruchs, des Aufbruchs, die zu Jahren eines Zusammenbruchs wurden, sind nicht in einseitige Schuldzuweisungen zu zwängen. Die Geschichte der Perestroika und des Glasnost, das die Leute auf ihren Transparenten trugen, voller Hoffnung auf eine bessere Sowjetunion und eine bessere DDR. Die leider zu kurze Geschichte des Wunsches und Willens nach Veränderung und Erneuerung eines Landes und damit eines Systems, das sich mit der Zeit selbst überholte und zuletzt ausknipste, ist weitaus komplizierter. Ohne einen Blick auf die Geschichte der Sowjetunion ist es unmöglich, distanziert und unvoreingenommen die Wirren des letzten Jahrzehnts der SU und des Ostblocks allgemein zu verstehen. Modrows Buch "Die Perestroika" gibt fernab kalter politischer Analysen und schnöden Zahlenmaterials viel mehr eine persönliche Sichtweise auf die Geschehnisse der Zeit und eben speziell auf die politischen, wirtschaftlichen Bewegungen in der UdSSR, die leider zu oft zu sehr Bewegungen der Macht waren. Wie zu erwarten bedient das Buch weder die Zeitgenossen, die meinen, eine sozialistische Alternative inmitten einer kapitalistischen Welt hätte nie auch nur einen Funken Sinn gehabt, wäre mit ihrer Geburt auch schon tot gewesen, Zeitgenossen und "Freiheitskämpfer", deren reaktionäre Parolen bestenfalls nur noch ermüden. Noch werden sich jene bestätigt fühlen, die meinen, der Ostblock wäre allein von außen zerstört worden. Das macht es nicht einfacher und regt zum Selberdenken an. Schritt für Schritt führt Modrow chronologisch geordnet den Weg des real existierenden Sozialismus in seine Krise des zu späten Umdenkens und Zurückbesinnens aus. Natürlich nimmt im Buch die Person Gorbatschow eine zentrale Stellung ein, der mehr als jeder andere Einfluß auf die komplexen Zusammenhänge ausübte und leider zu oft nicht ausübte. Die Ignoranz und die Gleichgültigkeit, mit der Gorbatschow schon lange vor Beginn der "Wende" sein Land, den Versuch es zu ändern, und damit nicht zuletzt die DDR, ihrem Schicksal überließ, kommt einem Verrat, einem Verkauf gleich. Doch dem gegenüber muß die Einsicht stehen, daß es so, wie es war, nicht weiter gehen konnte. Perestroika und Glasnost, so wie sie gedacht waren, nicht wie sie mißbraucht wurden, als der Versuch einer Korrektur von Fehlern und Fehlentscheidungen wirtschaftlicher wie politischer Natur. Fehler, die sich im Laufe der Zeit immer fataler auswirkten (im wesentlichen die fehlende Transparenz einer zum Monster gewordenen Bürokratie, das Unterdrücken der so notwendig gewesenen Auseinandersetzung mit den Widersprüchen), diese Dinge wirkten sich bitter aus. Doch den schmalen Grat zwischen Neuerung und Bewertung, zwischen Hinterfragen und Bewahren zu gehen, war ein Titanenwerk, das zuletzt auch nicht an Gorbatschow allein scheiterte. All dieses erfährt der Leser im Buch leicht verständlich und ohne schmückendes Beiwerk und politisches Fachgebrabbel.
Außerdem - und dies kommt auch im Buch nicht zu kurz - darf man nicht vergessen, daß das Wieder-in-Funktion-Bringen des Realsozialismus des vermeintlichen "Bruders" auf jeden Fall verhindert werden mußte. Die Pfründe im Osten waren zu fett, als daß man davon lassen konnte, die Möglichkeit, sich den Schrank zu füllen, und die Aussicht auf "Revanche" war nur zu süß. Allen voran waren es die BRD und ihr vereinigungswütiger Kanzler, der sofort nach dem "Öffnen der Tür" den Fuß hineinstellte und die wirtschaftliche Krise des Realsozialismus, die nicht zuletzt auch auf die ständigen Repressionen von außen und die mehr als ungünstigen Ausgangsbedingungen zurückzuführen war, ausnutzte und unter anderem erpresserisch, im Gegenzug für finanzielle Hilfe, der Führung der UdSSR und damit der DDR seine Bedingungen diktieren konnte. Dieser Raub (ein imperialistisches Paradestück) hat Folgen, die auch weiterhin europaweit, wenn nicht gar weltweit, ihre Kreise ziehen werden, und das mit einer Eigendynamik, die einen angst und bange macht. Denkt man nur an die, wie Modrow meint "naive und kurzsichtige Entscheidung" im Bezug auf die Rolle Moskaus in der Frage der NATO-Mitgliedschaft des "neuen Großdeutschlands". Und welch bittere Ironie: "Zum anderen stand zu befürchten, daß die Ausdehnung nach Osten nicht unbedingt an Oder und Neiße enden würde." Der Jugoslawienkrieg, den die BRD als Hauptschuldige vom Zaun brach, gibt Modrow in einer beängstigenden Weise recht. Unweigerlich stellt sich die Frage: Was hatte man denn auch vom Kapitalismus erwartet? Doch rückblickend auf Vergangenes, auf gegangene Wege, sieht alles immer so klar und einfach aus, diesen Rückblick mit gebührender Nachsicht zu wagen, mit der Einsicht, daß die Geschichte der Menschen nun mal nicht schnurgerade verläuft, sondern kurvig und zu weilen gar rückwärts, daß Niederlagen nur dadurch in Fortschritte verwandelt werden können, wenn man aus ihnen lernt. Dabei kann dieses Buch eine große Hilfe sein. Nicht zu vergessen trotzdem: DIE PERESTROIKA spiegelt eine persönliche Sicht wider und kann deshalb bestimmt nicht als alleinige Wahrheit gepriesen werden. Gerade Modrows Hadern mit "3. Wegen" und "Alternativen zu Alternativen" sorgte bei mir persönlich für einige Bauchschmerzen. Und da wir von Bauchschmerzen reden: Die PDS wird im Buch nur ansatzweise erwähnt, sie ist ja auch nicht Thema. Im einzelnen weist Modrow aber auf eine fehlende präzise Definition eines "modernen, demokratischen Sozialismus" in der Partei hin. Daß die PDS an diesem Problem auch weiterhin zu tragen hat, in diesem Punkt kann ich Modrow nur zustimmen. Denn wenn die PDS überhaupt einen Weg verfolgt, auf dessen Wegweiser Sozialismus stehen sollte, so ist diese Partei des demokratischen Sozialismus unverkennbar vom selbigen weit abgekommen. Wobei man nicht umhin kommt, zwischen Basis und Parteiführung zu differenzieren. Doch die Bewertung der PDS soll hier nicht Thema sein. Zur Perestroika-Zeit bleibt zu sagen, daß es trotz all den Fehlern und Irrungen immer noch Fehler sind, die hätten korrigiert werden können. Daß diese Möglichkeit reell bestand, das belegt Modrow in seinem Buch in klarer Weise. Eine riesige historische Chance, die vertan worden ist. Unwissenheit, das Abweichen von den Grundsätzen des Sozialismus, Angst aber auch, das Festhalten "Alter" an alten Mächten und zunehmend vor allem der deutsche Raubimperialismus (warum es anders nennen, wenn der Name, wenn der Hut so gut paßt), ließen keinen Platz für Umdenken, aber auch nicht für Besinnung auf das, wo man eigentlich mal hin wollte. Doch so sehr man sich an wehmütige Rückblicke und "Was wäre gewesen, wenn ...?" klammern möchte, das Ende des Realsozialismus war kein Ende, sondern eine Testphase. War es nicht trotz alledem ein guter Anfang und Versuch, eine Alternative zu einem menschenverachtenden System zu schaffen, einem System, das schon viel zu lange auf dieser Welt wütet? So gerne das auch die neuen Herren verdrehen und verschleiern, 70 Jahre Alternative zum Kapitalismus zeigen vielmehr, daß es geht, als daß es nicht geht. Mit dem Sozialismus ist es halt wie mit ROM, ist am Schluß des Buches zu lesen - es wurde nicht an einem Tag erbaut!

Titel: DIE PERESTROIKA - Wie ich sie sehe
Persönliche Erinnerungen und Analysen eines J Jahrzehntes, das die Welt veränderte
Autor: Hans Modrow
Verlag: Edition Ost
Jahr: 1998
ISBN: 3-932180-61-5